Online-Podiumsgespräch: Typisch Chinesisch?
Prof. Dr. Thomas Heberer und Prof. Dr. Richard Trappl über chinesische Denk- und Verhaltensweisen: Lin Yutangs Betrachtungen aus heutiger Sicht neu interpretiert
Die Grundlage des Podiumsgesprächs mit Prof. Dr. Thomas Heberer und Prof. Dr. Richard Trappl, moderiert von Dr. Nora Frisch und Heidi Marweg, bilden Betrachtungen zum “chinesischen Charakter”, die Lin Yutang bereits in den 1930er Jahren anstellte. Im Gespräch beleuchteten Heberer und Trappl, wie die Analysen Lins aus heutiger Sicht zu interpretieren sind. Darauf, was aus unserer Sicht und was aus chinesischer Sicht “typisch chinesisch” ist. Lin Yutang analysiert in „Mein Land und mein Volk“ (in der originalen deutschen Übersetzung von Wilhelm Süskind aus dem Jahr 1935) mit großer Beobachtungsschärfe die mentale und ethische Verfassung, die Ideale des chinesischen Volkes, sein soziales, politisches und literarisches Leben, die Stellung der Frau, des Mannes, der Familie. Das Werk befasst sich mit dem China der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und dennoch ist sein Inhalt hochaktuell. Und genau darauf gingen die beiden Podiumsteilnehmer ein und der Frage nach, wie es uns gelingen kann, chinesisches Denken und Handeln besser zu verstehen.
In ihrer Einführung ging Heidi Marweg auf die Person Lin Yutang ein. Lin Yutang, geboren 1895 in der Provinz Fujian als Sohn eines chinesischen presbyterianischen Geistlichen, studierte ab 1910 zunächst Theologie. Der frühe Tod seiner Schwester führte dazu, dass er sich vom Christentum abwandte. 1919 ging Lin in die USA und studierte zunächst an der Harvard Universität. Er arbeitete zunächst für den YMCA in Frankreich. Von 1921-1923 studierte er in Deutschland an der Universität Jena, dann an der Universität Leipzig, wo er 1923 mit einer Arbeit über das Thema Altchinesische Lautlehre (auf Deutsch) promovierte. Zurück in China wurde er Professor an der Englisch-Abteilung der Peking-Universität. 1926 übernahm er die Leitung der Englisch-Abteilung an der Pädagogischen Hochschule Pekings. Als er Kritik an der brutalen Warlord-Regierung in Peking übte, musste er aus Peking fliehen. Er kehrte in seine Heimatprovinz zurück, wo er Dekan am College für Kunst und Literatur der Xiamen-Universität wurde. Im Jahr 1927 nahm Lin Yutang den einzigen politischen Posten seines Lebens an und wurde Sekretär des Außenministers der Nationalregierung in Wuhan. Das war er allerdings nur wenige Monate lang. Nach 1927 lehrte Lin Yutang an der Dongwu-Universität von Suzhou und am Juristischen College von Shanghai. 1930 wurde er zum Direktor der Abteilung für Fremdsprachen an der Akademie der Wissenschaften berufen.
Im Jahr 1935 veröffentlichte Lin Yutang mit Hilfe der Literaturnobelpreisträgerin Pearl S. Buck in den USA sein erstes Buch Mein Land und mein Volk (My Country and My People) auf Englisch. Dieses Buch wurde zu einem Bestseller, der 1936 ins Deutsche, 1937 ins Französische und erst 1938 ins Chinesische übersetzt wurde. Damit war Lin Yutang der erste Literat Chinas, der seinen Ruhm im Ausland begründete. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Lin hauptsächlich in den USA. Er starb im März 1976 und ist in Taipeh begraben.
In seinen Werken versuchte er, die kulturelle Kluft zwischen China und dem Westen zu überbrücken. Anders als viele Zeitgenossen versuchte er jedoch nicht, das Heil für China in westlichen Ideologien zu finden oder sich von Chinas Traditionen abzuwenden: vielmehr analysierte er sie in ihrer ganzen Tiefe. Da er auf diese Weise auch Schwächen zutage förderte, wurde er mitunter auch als “Nestbeschmutzer” diffamiert.
Prof. Heberer macht gerade auch in seiner Einführung zum Werk: Lin Yutang: “Mein Land und mein Volk”, das nun in der dritten Auflage im Drachenhausverlag mit ihm als Herausgeber erschienen ist, klar, wie bedeutend und aktuell Lins Analysen sind. “Mein Land und mein Volk” leiste “nach wie vor einen intensiven Beitrag zum Verständnis auch des gegenwärtigen China und seiner nicht immer leicht verständlichen Kultur”. Mit seinem Bemühen um “die Konkretisierung und Erklärung des “Fremden” wirke Lin als Vermittler zwischen Ost und West: “Er beleuchtet Hintergründe, gewährt tiefe Eindrücke und trägt so zu einem besseren Verständnis von Chinas andersartiger Denkweise bei.”
Die Teilnehmer:
Prof. Dr. Thomas Heberer studierte Politologie, Sinologie und Ethnologie in Frankfurt am Main, Göttingen und Heidelberg. Nach seiner Promotion 1977 arbeitete er zunächst als Dolmetscher und Übersetzer in China. 1989 habilitierte er sich in Bremen. 1998 übernahm er den Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ostasien an der Universität Duisburg-Essen. Seit 2009 ist er Co-Direktor des Konfuzius-Instituts Metropole Ruhr mit Sitz in Duisburg und betreut den Programmteil Politik und Gesellschaft Chinas. Seine Forschungsschwerpunkte sind Prozesse, Strukturen und Akteure des politischen und sozialen Wandels in China. Durch zahlreiche Forschungsprojekte in China und über 35 Jahre Forschungstätigkeiten gehört er zu den führenden Ostasienexperten in Deutschland.
Prof. Dr. Richard Trappl studierte 1974/75 in Peking chinesisch und promovierte und habilitierte sich an der Universität Wien. Ab 1979 lehrte er dort am Institut für Sinologie (heute: Institut für Ostasienwissenschaften) alte und neue chinesische Literatur. Mit seiner langjährigen China-Erfahrung war er von 1998 bis 2011 China-Beauftragter der Universität Wien. Seit den 1980er Jahren unterrichtet er an der Diplomatischen Akademie Wien. Er ist Gastprofessor an der Beijing Language and Culture University und an der Changchun University. Seit 2006 leitet er das Konfuzius-Institut an der Universität Wien. Für seine Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.
Dr. Nora Frisch, geboren in Wien, studierte Sinologie und Musikwissenschaften in Wien, Peking, Taipei und Heidelberg. Nach Abschluss der Promotion im Fach Moderne Sinologie an der Universität Heidelberg gründetet sie 2010 den Drachenhaus Verlag und verlegt seither chinabezogene Publikationen. Mit ihren Publikationen möchte sie China in allen Facetten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wissenschaftlich fundiert und zugleich spannend und vielseitig dargestellt näherbringen.