Vortrag: Prof. Dr. PHILIPP GASSERT (Mannheim) “Wie erinnern wir uns an ‘1968’? Von den Schwierigkeiten einer Historisierung”
In der Erinnerung an „1968“ dominieren oft klare Fronten und Zuschreibungen. Hier die Protestakteure der Neuen Linken, die mit „Wut und Witz“ Widerstand gegen eine „repressive“ Gesellschaft geleistet hätten, in der „Sekundärtugenden“ wie Unterordnung, Gehorsam und Zwang dominierten. Dort ein „verbohrtes Establishment“, das sich den Herausforderung der Modernisierung gar nicht, oder nur verhalten gestellt habe, mit harscher Repression den Status quo verteidigend und purem Unverständnis reagierend. Dem entspricht ein visuelles Programm, das durch Filmdokumentationen, großformatige Bildbände und Ausstellungen seither tradiert wird. Der Vortrag hinterfragt die erinnerungskulturelle Engführung von „1968“ auf das Gegenüber zweier eindeutig fixierter Seiten, denn die „Fronten“ waren Ende der 1960er Jahre weniger eindeutig gezogen als es rückblickend oft erscheint. Dies hängt einerseits mit den spezifischen Mustern der Tradierung von „1968“ zusammen. Zugleich war diese, nicht zuletzt visuelle Konfrontation, schon in den Ereignissen selbst angelegt. Denn „1968“ repräsentiert den Übergang zu einer Protestkultur, in der es, stärker als bei früheren derartigen Bewegungen, um die Identität des demonstrierenden Kollektivs selbst ging. Dies spiegelte sich in den spezifischen Aktionsformen der Protestler wider. Hinzu kam entscheidend, dass sich „1968“ an einem wichtigen Wendepunkt der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte ereignete: Es steht daher für die Bewältigung der sozialen Umbrüche der „langen“ 1960er Jahre, insbesondere für den Übergang zur Konsumgesellschaft sowie zu einem primär auf visuellen Codes basierenden Mediensystem. Diese fundamentalen Wandlungsprozesse hat „1968“ in der Erinnerung quasi kolonisiert. Streit über „1968“ wurde somit zum Streit um die Modernisierung der alten Bundesrepublik.
Der Vortrag basiert auf dem kürzlich erschienen Buch von Herrn Prof. Dr. Philipp Gassert “Bewegte Gesellschaft: Protest in Deutschland seit 1945 (Stuttgart 2018)”, der ersten Gesamtdarstellung der deutsch-deutschen Protestgeschichte seit 1945. Der Autor lehrt seit Februar 2014 Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und hat sich in zahlreichen Publikationen sowohl mit der Geschichte der transatlantischen Beziehungen als auch mit den Protest- und Friedensbewegungen in der Ära des Kalten Kriegs befasst. Er hat zuvor am Deutschen Historischen Institut in Washington, D.C, an der Universität Heidelberg, der LMU München, der University of Pennsylvania und der Universität Augsburg geforscht und gelehrt. Gastprofessuren in Haifa und Wien. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien. Mehr zu seiner Person finden Sie auf der Webseite der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim.
Im Anschluss an den Vortrag zeigt das Karlstorkino ab 20.45 Uhr den Film “Une Jeunesse Allemande” von Jean-Gabriel Periot (2015), Länge: 93 Minuten. Näheres auf der Webseite des Karlstorkinos.