In der Rückschau auf das Jahr 1968 dominieren heutzutage die Relativierungen: die Ereignisse und ihre Folgen waren alles in allem gar nicht so revolutionär, wie die 68er sich das damals einbildeten; viele Entwicklungen in Richtung auf eine moderne offene Gesellschaft in der Bundesrepublik waren eh im Gange und sind durch die Rebellen nur zusätzlich angestoßen worden. Das ist sicher auch richtig so, man muss dieses Datum „1968″ heute einordnen und im historischen Zusammenhang, anstatt immer nur als große Ausnahme verstehen. Andererseits: wenn man ‘Globalisierung’ als einen Prozess begreifen möchte, der auch geistigen und politischen Verkehr der ganzen Welt einschließt und nicht nur die Internationalität der Märkte meint, also die Bewegung von Kapital, Arbeitskräften und Waren rund um den Globus, dann muss man zugeben, dass 1968 ein Stichjahr war: Es trafen die Dekolonisation und die Bürgerrechtsbewegung in den USA auf eine weltumspannende Revolte der Jugend und der Randständigen nicht nur in den entwickelten Ländern, und diese weltweite Mobilisierung erzeugte ein ganz besonderes Klima. In die damals im Grunde verbrauchte Vokabel von der Weltrevolution strömte plötzlich neues Leben ein.
Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte Volkswirtschaft in Berlin und arbeitet seit 1978 als freie Autorin. Sie schrieb dreißig Bücher und erhielt verschiedene Preise, u. a. den Jean-Améry-Preis für Essayistik und den Theodor-Wolff-Preis für ihr Lebenswerk. Ihre Themen: Leben mit Kindern, Frauenpolitik und -bewegung, Medien, die Rebellion von 1968. Bekannt wurde sie als Fernsehkritikerin der »Zeit«. 2017 erschienen : „Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung“, zusammen mit Kai Sichtermann. Ferner „Mary Shelley. Leben und Leidenschaften der Schöpferin des Frankenstein“ und „Viel zu langsam viel erreicht. Über den Prozess der Emanzipation“.