Aktuelle Veranstaltungen in der Reihe
„Ich schreibe an einem der seltenen 29. Februare, einem Samstag in diesem Schaltjahr. Die Zahl der Ansteckungen hat weltweit 85.000 überschritten, 80.000 allein in China, die Zahl der Toten nähert sich 3.000. Seit mindestens einem Monat begleitet diese merkwürdige Buchführung im Hintergrund meine Tage.“ (Paolo Giordano, In Zeiten der Ansteckung, Hamburg: Rowohlt, 2020, S. 10)
„Donnerstag, 19.3.2020
Tag zwei. Oder Tag drei? Oder drei Tage vor der Ausgangssperre? Oder zwei Tage? Es ist wie ein Tag unter Wasser. Das Leben ist entwichen, die Menschen sind verschwunden. Innen eine große Leere, außen auch.“ (Georg Diez, Blogdown: Notizen zur Krise, Berlin: Frohmann, 2020, S. 17)
„Dienstag, 7. April 2020
Die Abende sind besser als die Morgen. Nachts bringt mich die blanke Erschöpfung in den Schlaf. Morgens früh, wenn alles noch still und die Luft noch kalt, morgens früh kommen die Fragen und schnüren einem den Atem ab wie ein eiserner Ring: Wie lange soll das so gehen? Wie lange werden wir das durchhalten? Wer ist Wir in diesem Satz?“ (Carolin Emcke, Journal: Tagebuch in Zeiten der Pandemie, Frankfurt (Main): S. Fischer, 2021, S. 65)
„Die meisten von uns gelangen irgendwann an einen Punkt, an dem wir feststellen, dass das Leben nicht so ist, wie wir es uns vorgestellt haben. Ein Punkt, an dem bestimmte Gewissheiten zerbrechen, dunkle Ahnungen wahr werden und die jähe Erkenntnis, eine einschneidende Zäsur zu erleben, Wellen des Unglaubens durch unsere Körper schickt. Als die Pandemie auch in Deutschland ihren ersten Höhepunkt erreichte, erfasste mich genau dieses Gefühl.“ (Daniel Schreiber, Allein, München: Hanser Berlin, 2021, S. 57)
Als wir die chinesische Autorin Fangzhou JIANG in diesem Jahr auf den Heidelberger Literaturtagen und der Frankfurter Buchmesse vorstellten, wurde in den Gesprächen mit der Schriftstellerin und nach einem Blick auf aktuelle Buchmarktveröffentlichungen deutlich, wie sehr die Corona-Pandemie Künstler:innen und Schreibende im vergangenen Jahr beschäftigt, ja geradezu umgetrieben hat. Ihre Kurzgeschichtensammlung A Walk With the Only Man Who Knows Why the Stars Shine, die im Oktober 2020 veröffentlicht wurde, schrieb Jiang nach eigener Aussage „gegen die Zeit“; sie fürchtete, dass die Geschehnisse, die sie erdachte, sie womöglich in der Realität einholen könnten. In ihren Kurzgeschichten lässt ein Virus die Welt stillstehen, Länder kapseln sich ab, Kriege brechen aus, während computerähnliche Wesen das Geschehen auf diesem, wie sie es nennen, „primitiven Planeten“ beobachten und kommentieren.
Auch in Deutschland nahmen zahlreiche Autor:innen den ersten Lockdown zum Anlass, ihre persönlichen Eindrücke und Empfindungen in literarischen Texten, Essays und Tagebüchern festzuhalten. Dieser individuelle Blick auf eine globale Krise – die Schilderung der neuen Lebenssituation mit einem neuartigen Virus, der Verlust des Zeitgefühls, die zunehmende Einsamkeit während der Lockdowns sowie die nahezu lückenlose Verfolgung des weltweiten Geschehens und der Entwicklung der Fallzahlen – weist auch über sprachliche, geografische und sogar historische Grenzen hinweg eine große Übereinstimmung zu anderen Veröffentlichungen, die sich mit Viren und Pandemien beschäftigen. Das Schreiben über Viren und Pandemien oder „Pandemie-Literatur“ ist trotz aller Aktualität kein Novum.
In ganz unterschiedlichen literarischen Genres haben sich Schriftsteller:innen verschiedener Zeiten und Kulturen auf vielfältige Weise mit Epidemien und Pandemien – realen und erdachten – auseinandergesetzt und nach Antworten gesucht, um Erfahrungen von Verlust, Tod, Angst, sozialer und politischer Destabilisierung (schreibend) zu bewältigen und über ihre Texte zu vermitteln. In der Weltliteratur stellt beispielsweise Giovanni Boccaccios Decameron (Il Decamorone), das Mitte des 14. Jahrhunderst entstanden ist, einen der Höhepunkte der Pandemie-Literatur dar. Die Rahmenhandlung erzählt von zehn reichen Bürgern, die aus Florenz aufs Land flüchten, um der grassierenden Pest zu entgehen. In zehn Tagen werden zehn Geschichten erzählt, die in Form von zehn Novellen ihren Weg in den Klassiker fanden. Margaret Atwood, die berühmte kanadische Schriftstellerin und Vertreterin der spekulativen Literatur, arbeitet derzeit als Herausgeberin an einem weiteren Novellen-Band in Anlehnung an das Decameron. Diesmal werden Fourteen Days, so der geplante Titel, von vierzehn Autor:innen beschrieben – erneut steht das Pandemiegeschehen im Zentrum der Erzählungen.
Seuchen, Viren, Pandemien behandelten auch die Romane von Daniel Defoe (A Journal of the Plague Year, 1722), Alexander Puschkin (A Feast in Time of Plague, 1830), Heinrich Heine (Ich rede von der Cholera, 1832) sowie aktueller von Gabriel García Márquez (Liebe in Zeiten der Cholera, El amor en los tiempos del cholera, 1985), Ljudmila Ulitzkaja (Eine Seuche in der Stadt, 2021) oder die bereits erwähnte Kurzgeschichtensammlung von Fangzhou JIANG (A Walk With the Only Man Who Knows Why the Stars Shine, 2021). Die eingangs zitierten Autor:innen Georg Diez, Carolin Emcke, Paolo Giordano und Daniel Schreiber verfassten Tagebücher und tagebuchartige Essays— Pandemieliteratur erscheint allgegenwärtig. In dieser Kurzreihe wenden wir uns daher zeitgenössischen literarischen Stimmen aus China und der sinophonen Welt zu und präsentieren Texte, die nicht nur während, sondern auch bereits vor der Corona-Pandemie entstanden sind.
In Kooperation mit dem Center for Asian and Transcultural Studies (CATS).