Chinesische Medizin und Demenz (Parkinson, Alzheimer, MS)
Am 24. Juni 2021 behandelte Andrea Mercedes Riegel in der Reihe „Chinesische Medizin“ in unserer in Kooperation mit der Akademie für Ältere stattfindenden Vortragsreihe “Chinesische Medizin” zum vorläufigen Abschluss dieser Vortragsreihe in diesem Jahr das Thema “Chinesische Medizin und Demenz“.
Unter Federführung der Akademie für Ältere Heidelberg und in Zusammenarbeit mit weiteren Partnern und Unterstützern aus Stadt und Kirche wird derzeit eine „Lokale Allianz für Menschen mit Demenz“ in Heidelberg und Umgebung aufgebaut und zahlreiche Veranstaltungen von der Akademie für Ältere zum Thema angeboten. Daher und um die neuere Forschung hierzu in China vorstellen zu können, haben wir dies zum Anlass genommen, den letzten Vortrag in unserer Reihe “Chinesische Medizin” ebenfalls dem Thema “Demenz” zu widmen.
Die Demenz stellt eines der größten gesundheitlichen Probleme in der Welt dar. In Deutschland leben rund 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung, weltweit sind ca. 50 Millionen betroffen – Tendenz steigend. Demenz, sinngemäß „Ohne Geist“, definiert sich durch einen Abbau geistiger Fähigkeiten. Der Abbau geistiger Fähigkeiten, das zunehmende Vergessen (ganzer Vorgänge und Handlungen) führen letztlich dazu, dass der Patient allmählich seine Alltagskompetenz verliert. In der weiteren Entwicklung der Erkrankung treten neben Sprachprobleme, Veränderungen im psychischen Bereich sowie Persönlichkeitsveränderungen auf. Es kommt zu Störungen in folgenden Bereichen: Gedächtnis/Erinnerung, Denken, Sprache, Verhalten/Persönlichkeit und Orientierung.
Die Demenz ist auch Teil anderer systemischer Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Diabetes. In China ist die Behandlung der Demenz über die chinesische Medizin erst seit einigen Jahren in der Diskussion, die bisherigen Erfolge sind bereits erfolgversprechend. Es wurden verschiedene Demenz-Arten aus Sicht der chinesischen Medizin beleuchtet und die Chancen für Verbesserungen betrachtet. Da meist mehrere Symptome mit der Demenz einhergehen, wird allgemein vom „dementiellen Syndrom“ gesprochen. Es ist meist die Folge einer chronischen Erkrankung des Gehirns mit einer Störung der höheren kortikalen Funktionen. Die Pathomechanismen der Demenz sind weitgehend unbekannt, eine ätiopathogenetische Rolle spielen generell Nervenentzündungen, Schädigungen cholinerger Übertragungswege oder Intoxikationen sowie genetische Mechanismen. Das Risiko, an Demenz zu erkranken, steigt natürlich mit dem Lebensalter. Weitere Risikofaktoren sind weibliches Geschlecht, bestimmte Grunderkrankungen wie Morbus Parkinson oder Diabetes oder Bluthochdruck.
Die Demenz umfasst mehrere Unterarten. Die häufigste Form der Demenz ist die Alzheimer-Demenz, daneben die Alters- und die vaskuläre Demenz und die frontotemporale Demenz, denen jeweils unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen.
Die normale (Alters) -demenz zeigt Symptome wie Vergesslichkeit, Konzentrationsstörungen, beeinträchtigtes Denkvermögen, Probleme mit Alltagsbeschäftigung, Stimmungsschwankungen und Persönlichkeitsveränderungen. Zusätzlich können auftreten: Schlafstörungen, Probleme mit dem Tag-Nacht-Rhythmus, Essstörungen, später Inkontinenz und Ruhelosigkeit, das sog. „Wandering“. Bei der vaskulären Demenz sind die Symptome abhängig von dem von der Blutunterversorgung betroffenen Areal, und sie zeigt sich vornehmlich in einer Verlangsamung der Sprache, in Konzentrationsstörungen und Stimmungsschwankungen. Ursache sind hier meist Durchblutungsstörungen, hervorgerufen durch Arterienverkalkung der Hirngefäße, Hirnblutungen, Hirninfarkt (verstopfte Gefäße im Gehirn) oder Bluthochdruck. Auch Gluten als Verursacher chronischer degenerativer Entzündungen im Gehirn kann eine gewisse ätiologische Rolle bei der vaskulären Demenz spielen.
Eine besondere Form der Demenz ist die Alzheimer-Demenz. Sie ist gekennzeichnet durch einen fortschreitenden Prozess, ausgehend von einem zunächst schleichenden Beginn. Der schleichende Beginn ist gekennzeichnet durch Gedächtnisstörungen. Im weiteren Verlauf kommt es zum kontinuierlichen Abbau von Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeit, räumlichen Fähigkeiten und psychomotorischer Geschwindigkeit. Begleitet wird die Alzheimer-Demenz von Depression, Apathie, Reizbarkeit, Aggression, Verwirrtheit und Gangstörungen. Als ätiologisch relevant werden hier kleinste Veränderungen im Gehirn diskutiert, die sich als Plaques und Fibrillen zeigen. Diese Plaques bestehen aus dem Eiweiß beta-Amyloid und Tau-Protein. Auch die Fibrillen sind Eiweißstrukturen, die sich innerhalb der Nervenzellen fadenartig zusammenlegen. Es zeichnet sich zudem ein signifikanter Rückgang der Hirnmasse im Bereich des Hippocampus ab. Als Risikofaktoren für Alzheimer gelten Schwermetalle und Gifte wie Lösemittel oder Holzschutzmittel sowie Aluminium im Gehirn.
Die Standardtherapie in der Schulmedizin arbeitet u.a. mit verschiedenen Naturpräparaten wie z.B. Gingko zur Aktivierung der Blutzirkulation im Gehirn. Für die Alzheimerkrankheit werden vornehmlich Acetylcholinesterase-Hemmer eingesetzt (Donepezil, Rivastigmine), im fortgeschrittenen Stadium meist als Palliativum. Zusätzlich werden Medikamente für spezielle Symptome oder eventuelle Grunderkrankungen (Depression, Bluthochdruck, etc.) verabreicht. Daraus kann sich ein Medikamentencocktail ergeben, der wieder die Entgiftungsfunktionen von Leber und Niere überfordert, was sich dann rückwirkend wieder negativ auf die Hirnleistung auswirkt.
In der chinesischen Kulturgeschichte war der allmähliche Verlust des Denkvermögens kein eigenständiges Thema von medizinischem Interesse. Dementsprechend finden sich in der klassischen Literatur nur wenige Erwähnungen zur Demenz, die erste in der Geheimen Biographie des Hua Tuo aus dem dritten Jahrhundert. Erst in der Mingzeit findet sich im Jingyue quanshu des Zhang Jiebin ein Kapitel über Symptome des Verlustes der klaren geistigen Wegsteuerung und die Beschreibung von deren Ätiologie und Therapie. Die wichtigste Standardrezeptur, die Zhang zu diesem Thema entwickelte, das Qi Fu Yin 七福饮, ist heute Gegentand weitgehender Studien in China. (s.u.)
Aus chinesischer Sicht hängen Gehirn und Gehirnleistung von der Ernährung durch die Niere bzw. die Nieren-Essenz ab. Die Grundlage für die geregelte Hirnleistung und „klares Bewusstsein“ (shen) bildet also die Versorgung mit Essenz, die durch das Nieren-Qi in das Gehirn transportiert oder für die Bildung von Herz-Blut bereitgestellt werden muss, damit das Herz als Speicher des shen in die Lage versetzt wird, seiner Aufgabe nachzukommen. Die Niere wiederum wird von der Milz versorgt, ihr Essenz-Depot wird angereichert durch Essenz, die durch die Milz gefiltert wird. Erschöpfung von beiden, Niere und Milz, sind Risikofaktoren für das Entstehen einer Demenz. Das klare Bewusstsein hängt weiter von Qi ab. Mangel an Qi oder Stagnation in den Gefäßen von Qi und Blut bedeutet schwache Gedächtnisleistung und Mangel an geistigem Antrieb und sind auch Risikofaktoren für das Entstehen von „Schleim“. Durchblutungsstörungen der vaskulären Demenz wie die Bildung von Plaques bei der Alzheimer-Demenz gehören in den Bereich des Pathogens „Schleim“. Als wichtigste präventive Maßnahme gegen die Manifestation einer Demenz ergibt sich demnach die Ernährung. Zu den Prinzipien der adäquaten Ernährung zählt Ernährung mit warmen nährenden Lebensmitteln, daneben der Verzicht auf Kuhmilch und Gluten als „Schleimbildner“. Als zweiter Faktor für die Prävention ergibt sich die Aktivierung der Blutzirkulation durch Bewegung an frischer Luft als Quelle für Qi.
Die bei der Alzheimer-Demenz als Begleitsymptome auftretenden Depressionen, Aggression und Reizbarkeit sprechen zum einen für eine Mitbeteiligung der Leber, Leber-Qi-Stagnation oder hochschlagendes Leber-Yang. Zum anderen können diese Symptome auch zur „Schleim-Hitze im Herzen“ gerechnet werden. Da das Herz das Bewusstsein (shen神) speichert, muss innerhalb der Therapie jeder Art von Demenz auch das Herz angesprochen und gestärkt werden, insbesondere das Herz-Blut. Die generellen Verlangsamungen sprechen für Stagnationen oder Mangel and Qi, die Unruhe für einen Mangel an Yin.
Die Gewichtung sieht bei den unterschiedlichen Formen der Demenz prinzipiell etwas unterschiedlich aus: Für alle Arten der Demenz ist zunächst die Aktivierung der Blut- und Qi-Zirkulation essentiell. Bei der Altersdemenz steht das Nähren der Nieren-Essenz sowie die Stärkung des Nieren-Qi im Vordergrund, daneben das Nähren von Milz und Herz. Bei der Alzheimer-Demenz liegt hingegen der Fokus auf dem Thema „Schleim“.
Die unbefriedigenden Ergebnisse der Therapien der Schulmedizin im Bereich der Demenz haben viele Forscher in Asien in jüngerer Zeit dazu veranlasst, bei der Therapie der Demenz verstärkt auf den Einsatz von chinesischen Phytotherapeutika zu setzen und auch randomisierte Studien zum Thema Demenz in der chinesischen Medizin auf den Weg zu bringen. Die Untersuchungen beziehen sich sowohl auf Einzeldrogen als auch auf Standardrezepturen, insbesondere das Qi fu Yin 七福饮von Zhang Jiebin. Er wählte die Zusammensetzung zur „Stärkung des Nieren-Wassers und des Yin gegen aufloderndes Feuer“. Das Qi fu Yin besteht aus sieben Ingredienzien, nämlich Panax Ginseng (renshen), Rehmanniae glutinosae Rad. viride (shengdi huang), Angelicae sinensis Rad. (danggui), Glycyrrhizae Rad. (gancao), Atractylodis macro. Rhiz. (baizhu), Polygala Rad. (yuanzhi) und Ziziphi spinosae Semen (suanzaoren). Sie erfüllen die oben genannten Kriterien, nämlich das Qi zu stärken, Yin zu nähren, die Blutzirkulation zu aktivieren, Schleim zu wandeln und das Herz zu stärken. Eine Studie mit 697 Patienten zeigte eine klare Verbesserung der Lernkapazität und des Gedächtnisses bei Alzheimer und vaskulärer Demenz. Außerdem gibt es einen gewissen synergistischen Effekt mit Präparaten aus der Schulmedizin. Das Qi Fu Yin hat zudem einen neuroprotektiven Effekt, wertvoll als Prävention. Als Beispiel für eine Einzeldroge, die als Antidemenz-Mittel auf dem Prüfstand steht, sei die Gastrodiae Rhizoma (tianma天麻) genannt. Sie wird bereits seit langem für die Therapie von Schwindel, Lähmungen, Epilepsie und Hypertonie eingesetzt. In verschiedenen Studien hat sie sich als neuroprotektiv und mobilisierend auf das cerebrocardiovaskuläre System erwiesen. Ihr Einsatzgebiet erstreckt sich heute auch auf vaskuläre und die Alzheimer-Demenz.
Fazit
Die chinesische Phytotherapie scheint eine sinnvolle Ergänzung zur schulmedizinischen Medikation innerhalb der Demenzbehandlung zu sein. Es gibt vielversprechende Ansätze für die Anwendung chinesischer Kräuter in der Demenz-Therapie. Allerdings bedarf es weiterer Studien zu Einzeldrogen oder experimentellen Drogenrezepturen, um definitive Aussagen zur Wirksamkeit der Drogen machen zu können. Insbesondere von Interesse ist die Frage, inwieweit eine Typenunterscheidung, etwa nach Stadien, die Effektivität erhöht oder eine Kombination mit Akupunktur sinnvoll ist. Eine weitere Option könnte die Integration der Ohrakupunktur, speziell der Implantat-Akupunktur, sein, bei der über die Ohrmuschel ein direkter Zugang zum zentralen Nervensystem erreicht wird und Implantate einen Dauerreiz auslösen.
Der alternative Weg über die chinesische Medizin scheint insofern interessant, als über eine Reduzierung der nebenwirkungsreichen Pharmaka eine Entlastung der Organe Niere und Leber als Ausscheidungsorgane erzielt und eine Unterstützung der Organfunktionen zur verbesserten Entgiftung erzielt werden kann.
Literaturempfehlungen:
Zhang Jiebin (1996). Jingyue quanshu. Shanghai: Shanghai kexue jishu chubanshe
Lei Wang et. al (2021), „Is Qi Fu Yin effective in clinical treatment of dementia? A meta-analysis of 697 patients”, Medicine Journal. 100.5: 1-11
Yong Wang (2020), “ Gastrodia elata Blume (Tianma): Hope for Brain Aging and Dementia, Evidence-Based Complementary and Alternative Medicine, vol. 2020, ID 8870148
(Angaben basieren auf dem Vortrag sowie dem Vortragsmanuskript von Andrea-Mercedes Riegel)
Die Veranstaltung fand online als Teams-Livestream statt.
Andrea Mercedes Riegel schloss an ein Sprachenstudium ein Studium der Sinologie, Germanistik und Medizingeschichte an. Sie spezialisierte sich auf klassische chinesische Medizin, studierte 1989-1991 chinesische Medizin an einer privaten Fachschule in Taiwan. Auf die Promotion 1999 in Sinologie folgte 2010 die zweite in theoretischer Medizin. Sie arbeitet als Heilpraktikerin seit 1999 in eigener Praxis Praxis für klassische chinesische Medizin in Oftersheim bei Heidelberg und gibt regelmäßig im Rahmen ihrer Vorträge exklusive Einblicke in die chinesische Naturheilkunde. Fachpublikationen, Übersetzungen klassischer medizinischer Texte aus dem Chinesischen in europäische Sprachen sowie Lehrtätigkeit sind weitere Betätigungsfelder.
Hier finden Sie die Präsentationsfolien des Vortrags: