Chinas digitale „Convenience Society“
Am 12.03.2021 fand in Kooperation mit den Konfuzius-Instituten in München, Düsseldorf und Hamburg ein Online-Vortrag mit Dr. Hannes Jedeck, Sprachbereichskoordinator des Konfuzius-Instituts in Heidelberg, statt. Im Zentrum stand die sogenannte „digitale Convenience Society“ in China, einer Begleiterscheinung der schnellen, digitalen Transformation der chinesischen Kultur und Gesellschaft. Diese bietet ihren Mitgliedern die unterschiedlichsten Dienstleistungen über Smartphone-Apps an und verspricht eine schnelle Verfügbarkeit sowie ein besonders bequemes Verfahren der Abwicklung. So können unterschiedliche Lebensbereiche des Alltags – Konsum, Kommunikation, Mobilität und Finanzierung – möglichst angenehm und bequem bzw. „convenient“ organisiert werden. Doch wie „convenient“ (fangbian 方便) ist die digitalgesteuerte Lebenswelt tatsächlich? Wer profitiert von einer wachsenden Bedeutung von mobiler Datentechnik? Inwieweit ist der chinesische Staat als Steuerungs- und Kontrollorgan beteiligt? Welche Schattenseiten hat eine solche netzabhängige Gesellschaft, die geprägt ist von einer umfassenden digitalen Mobilität? Und schließlich: Welche Aspekte könnten auch für die deutsche Gesellschaft nachahmenswert sein?
Diesen Fragen ging Hannes Jedeck während seines 45minütigen Vortrags nach. Er stellte zunächst „Convenience“ als Schlüsselbegriff und Ausgangspunkt seiner Überlegungen vor. So stellt die „digitale Convenience Society“ nicht nur eine praxis- und technikorientierte Gesellschaftsform dar, sondern vor allem auch einen Lebensstil. Konsum und Kommunikation werden zentral über ein handliches System gesteuert, Beziehungen und Netzwerke über Apps und QR-Codes aufgebaut und gepflegt. Anhand der beispielhaften und innovativen Veränderungen innerhalb des Chat-Dienstleistungs-Marktes zeigte Jedeck auf, wie technischer Fortschritt und eine besondere Offenheit der Smartphone-Nutzer*innen gegenüber den neuesten digitalen Entwicklungen den Weg Chinas zu einer Gesellschaft ebnete, die von ebenjener namensgebenden „Convenience“ geprägt ist. Umgekehrt reagierten Unternehmen, App-Entwickler und Start-ups unglaublich schnell auf Veränderungen des „Mind-Sets“ der jungen und auch älteren „Techies“ in China. Diese seien technischen Innovationen grundsätzlich offen gegenüber eingestellt, so Jedeck. Der schnelle Ausbau des Netzes im Zuge der „China 2025“ Informatisierungs- und Industrialisierungsbestrebungen sorgte schließlich für die Grundvoraussetzung einer reibungslosen Rundumversorgung über App-Dienste, wie sie beispielsweise WeChat anbietet, einem Paradebeispiel für eine nutzer*innenorientierte digitale Umsetzung des Convenience-Prinzips.
Als negative Faktoren nannte Hannes Jedeck die Schwierigkeit für Nutzer*innen, das digitale Ökosystem wieder zu verlassen, den unausgesprochenen Trade-off zwischen Annehmlichkeiten durch die Anbieter und der reziproken Preisgabe von Daten seitens der Anwender*innen, den Exklusionscharakter durch die notwendige Nutzung von immer wieder zu aktualisierender Hard- und Software sowie die daraus resultierende Verstärkung von Klassenunterschieden. Auch der Staat als Kontrollorgan wurde als politischer Preis der „digitalen Convenience Society“ aufgeführt, der über das Netz Wissen über seine Bürger*innen abschöpfen kann. Schließlich sei auch der ökologische Preis kein geringer, so Hannes Jedeck auf Rückfrage aus dem Publikum. Smartphones bestehen aus seltenen Rohstoffen, die unter schwierigen Arbeitsbedingungen geborgen werden und die nur schwer abbaubar sind. Für die Gewährleistung einer ständigen Verfügbarkeit der angebotenen Dienstleistungen und die für Verarbeitung des stets wachsenden Datenvolumens werden riesige Rechenzentren benötigt, die wiederum viel Energie benötigen. Selbst wenn die deutsche Gesellschaft vom Innovationsgeist chinesischer App-Entwickler*innen lernen kann und der technische Fortschritt in Krisensituationen wie z.B. unter Pandemiebedingungen durchaus von Nutzen für eine Gesellschaft im Lockdown ist, so scheint der Preis der „digitalen Convenience Society“ in Zeiten des Klimawandels und des zunehmend gläsernen Netizens doch ein sehr hoher, vielleicht sogar zu hoher zu sein.
Eine Aufzeichnung des Vortrags finden Sie hier.
Über den Referenten:
Dr. Hannes Jedeck versteht sich als Vermittler, Übersetzer und Dekodierer der chinesischen Gesellschaft und Kultur in verschiedenen Kontexten. Er ist Koordinator des Sprachprogramms des Konfuzius-Instituts an der Universität Heidelberg und Gründer der „Initiative für den bundesweiten Aufbau von Chinakompetenz“ (IBAC) mit dem Ziel, ein Netzwerk aus Chinaexperten aufzubauen und über aktuelle Themen mit Chinabezug in Deutschland zu informieren. Auf dem Blog „China.Digital“ berichtet er über seine Erfahrungen zum Thema Digitalisierung im Reich der Mitte. Während der Zeit seiner Dissertation an der Exzellenzuniversität Bonn war er Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes.