GERD KOENEN (FRANKFURT)

Marx, Mao und die 68er – ein vielfaches Missverständnis

Was wusste Marx von China? Was wusste Mao von Marx? Was wussten die 68er von China und von Mao? Nicht viel jeweils. Was als eine lange weltanschauliche Kontinuität erscheint, ist in Wirklichkeit eine Geschichte mehrfacher Missverständnisse.

Marx’ Vorstellungen von China und seine skizzenhaften Bestimmungen einer „asiatischen Produktionsweise“ waren schwankend und stark eurozentrisch, aber durchaus substantiell. In den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts sind sie theoretisch kaum weiterverfolgt worden oder waren direkt verpönt. Die Gründer der KP Chinas besaßen ohnehin nur vage und bruchstückhafte Kenntnisse über Marx und den Marxismus. Wie unter Maos Ägide nach der Eliminierung der meisten anderen Parteigründer ein „Marxismus-Leninismus“ Stalin’scher Observanz zu einem System von originären „Mao Tse-tung-Ideen“ entwickelt worden ist, zählt zu den großen ideologiegeschichtlichen Transformationen des vergangenen Jahrhunderts. Nach dem Bruch mit der KPdSU löste sich der kulturrevolutionäre Maoismus weitgehend von den ursprünglichen Impulsen und emanzipativen Motiven des Marx’schen Denkens.  Die „maoisierenden“ 68er wiederum rührten sich aus allen diesen Ingredienzen einen ganz eigenen, neuen doktrinären Mix zusammen.

Wozu alle diese ideologischen Referenzen dienten und dienen und was der im Marx-Jahr 2018 neuerlich verbindlich erklärte „sinisierte Marxismus“ für das China Xis bedeutet, ist die eigentlich  spannende Frage, die sich nicht philologisch, nur historisch beantworten lässt.

Dr. Gerd Koenen ist Historiker und freier Autor, insbesondere einer Vielzahl von Sachbüchern. Themenschwerpunkte sind die Geschichte der deutsch-russischer Beziehungen, der alten und  neuen Linken sowie die Geschichte des Marxismus und des Weltkommunismus. Seine bekanntesten Bücher sind: Das rote Jahrzehnt – Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977 (2001),  „Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus“ (2003), „Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten, 1900-1945“ (2005). Im Herbst 2017 erschien sein Opus  magnum „Die Farbe Rot – Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ (C.H. Beck München). Nähere Informationen zur Person, Biographie und laufenden Arbeit unter www.gerd-koenen.eu.